„Die Fratze des Rassismus entriss uns auch den letzten Träumen einer heilen, uns 40 Jahre lang gepredigten, Welt.“

TAG DER ERINNERUNG am 10. Juni 2022 im Dessauer Stadtpark und am Hauptbahnhof // 70 Teilnehmende gedenken Alberto Adriano, Hans-Joachim Sbrzesny und allen Betroffenen rechter und rassistischer Gewalt


Ein großes SMART-TV-Gerät, eingerahmt durch die sommerliche Kulisse des Dessauer Stadtparks und des Bauhaus-Museums kündigte schon an, dass das diesjährige Programm zum TAG DER ERINNERUNG (mehr dazu hier...) ein ganz besonderes werden sollte. Rund 70 Gäste aus Dessau-Roßlau und Sachsen-Anhalt, darunter viele Vertreter:innen von Migrant:innen organisationen, Mitglieder des Landtags, Stadträt:innen und von Initiativen und Vereinen sind gekommen. Vor genau 22 Jahren erschütterte die Republik ein unsägliches Hassverbrechen in Dessau, dass in der Folge zu einem Umdenken in der Auseinandersetzung mit rechter Gewalt führen sollte.

Die Moderatorin Dr. Heike Kanter vom Multikulturellen Zentrum Dessau eröffnet das Gedenken mit zwei prägenden Sätzen: „Wir wollen heute nicht nur Alberto Adriano gedenken, sondern allen Opfern rechter Gewalt. Erst wenn wir uns nicht mehr erinnern, sind sie wirklich tot.“ Das diese Prämisse wirklich ernst gemeint ist und nicht nur auf einem Blatt Papier steht, beweist am Ende auch die Band „Mientras Tanto“ aus Merseburg, die vielmehr als ein musikalischer Programmpunkt ist. Immerhin waren und sind die Ensemblemitglieder ganz aktiv in die Erinnerung an die beiden kubanischen Vertragsarbeiter Raúl García Paret und Delfin Guerra involviert, die 1979 durch eine rassistische Hetzjagd eines Mobs von DDR-Bürger:innen in Merseburg ermordet worden (mehr dazu hier...).

Dr. Heike Kanter moderiert den TAG DER ERINNERUNG


Die Band „Mientras Tanto“ engagiert sich nicht nur musikalisch

„Fremdenfeindlicher Hass in seiner radikalsten Ausprägung führte zum gewaltsamen Tod von Alberto Adriano, der fast 20 Jahre in diesem Land als Ehemann, Familienvater und Freund lebte. Eine Geschichte, eine Zukunft, ein Leben wurden ausgelöscht in wenigen qualvollen Minuten sinnloser Gewalt gegen das vermeintliche Anders-sein“, sagt Dessau-Roßlaus Oberbürgermeister Dr. Robert Reck zu Beginn seines Grußwortes. „Die Fratze des Rassismus entriss uns auch den letzten Träumen einer heilen, uns 40 Jahre lang gepredigten, Welt“, führt er zudem wenig später aus und lässt wohl bewusst offen, ob damit die lange Zeit nicht stattgefundene Auseinandersetzung mit rassistischen Einstellungen und damit einhergehender rechtsextremer, tödlicher Gewalt in Ost oder West gemeint ist. Dieser Tod mahne deutlicher als alles andere, welche Bedrohung und Gefahr von rechtsextremem, rassistischem Gedankengut ausgeht. Deshalb ist es dem Stadtoberhaupt so wichtig, dass sich viele Bürger:innen der Stadt gegen rechte Gewalt positionieren und nennt als Beispiele dafür das hiesige Netzwerk GELEBTE DEMOKRATIE (mehr dazu hier...), die Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt, das Integrationsbüro der Stadt und das Multikulturelle Zentrum.


Oberbürgermeister Dr. Robert Reck findet deutliche Worte

Und auch wenn, so Robert Reck weiter, der Kampf gegen Alltagsrassismus sichtbarer geworden ist, zuletzt durch die Black-Lives-Matter-Demonstrationen und öffentliche Antirassismus-Debatten, gelte es nicht nachzulassen: „Es ist nicht zu verleugnen, dass rechtextreme Kräfte zunehmend versuchen ihre Arbeit zu professionalisieren und sie dadurch auch Rückhalt in Teilen der Bevölkerung erwarten können.“ Der Oberbürgermeister schlussfolgert daraus: „Wir können den Tod von Alberto Adriano nicht rückgängig machen, wir können uns jedoch dafür einsetzen, gemeinsam einen Ort zu gestalten, an dem rassistisches Gedankengut und rechtsextreme Gewalt kein Platz zukommt. Dann war dieser sinnlose Tod nicht umsonst.“




Dr. Heike Kanter, Mitarbeiterin im Projekt „Ossi-Ausländer“ (mehr dazu hier...) leitet dann einen weiteren, inhaltlichen Programmpunkt ein: „20.00 ehemalige DDR-Vertragsarbeiter:innen wurden Anfang der 1990iger Jahre zurückgeschickt, nicht freiwillig wohlgemerkt, sie wurden einfach in den Flieger gesetzt.“ Zu diesem Unrecht komme noch ein weiteres hinzu: „Sie haben 60% der ausstehenden Löhne trotz Versprechen nie bekommen und auch die ausstehenden Rentenansprüche wurden nicht ausgezahlt.“ Deshalb hat sich schon vor Jahrzehnten die „Kommission ehemaliger Vertragsarbeiter:innen in Mosambik" (mehr dazu hier...) gegründet. Und während der Spendenaufruf eben jener Kommission im Stadtpark verteilt wird und auf großes Interesse stößt, kündigt Heike Kanter eine Videobotschaft (hier zu sehen...) aus Mosambiks Hauptstadt Maputo an. Darin fordert ein Vertreter der Kommission, der übrigens den rassistischen Pogrom in Hoyerswerda miterleben musste, in eindringlichen Worten: „Wir bitten nicht um einen Gefallen, wir wollen unsere Gehälter.“ Seit 30 Jahren (sic!) geht die Kommission dafür immer montags auf Maputos Straßen, eine Dimension nebst Durchhaltewillen, die die Montagsdemos aller Couleur hierzulande locker in den Schatten stellt. Wie dringlich dieses Anliegen der ehemaligen Vertragsarbeiter:innen ist zeigt nicht zuletzt der Umstand, dass über die Hälfte der Menschen die bis heute die Gehälter nicht bekommen, bereits verstorben sind. Deshalb ist dem Appell „Wir bitten um Unterstützung von allen in Deutschland, die sich für Menschrechte einsetzen“, wohl nichts hinzuzufügen.

Szenenwechsel – trotz schwülheißer Hitze haben sich fast alle der Erinnerungsgeste zum Dessauer Hauptbahnhof begeben. Dort blicken sie auf eine (fast) leere Parkbank mit einem gerahmten Foto, darauf zu sehen: Hans-Joachim Sbrzesny. Genau auf jene Bank, wo für den damals 50-Jährigen im August 2008 sein Martyrium begann. An jenem 01. August 2018 schlief der an einer psychischen Erkrankung leidende Hallenser Hans-Joachim Sbrzesny auf der Bank, als die beiden polizeibekannten und wegen Gewaltdelikten vorbestraften Neonazis Sebastian K. und Thomas F. unvermittelt und mit äußerster Brutalität auf den Wehrlosen einschlugen, ihn regelrecht zu Tode prügelten.

Henriette Quade, ihres Zeichens Landtagsabgeordnete der Partei DIE LINKE, spricht die Erinnerungsworte hier. Sie beginnt ihr Statement mit einer Episode aus dem Magdeburger Landtag, dort habe vor kurzem eine Anhörung zum Bericht der Bundesbeauftragten für die Opfer terroristischer Gewalt im Inland stattgefunden und Vertreter:innen der Mobilen Opferberatung (mehr dazu hier...) darauf verwiesen dass es nach wie vor schwierig sei, die Vielzahl und Vielfältigkeit der Betroffenengruppen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Öffentlichkeit abzubilden, z B. hinsichtlich Homo- oder Transphobie oder Sozialdarwinismus. Der rechtsextreme Abgeordnete Tillschneider habe daraufhin im Parlament behauptet, so etwas wie Sozialdarwinismus höre er überhaupt zum ersten Mal und fragte was das überhaupt sein soll. „Warum erzähle ich Ihnen das: Weil das, was als Anekdote aus dem Alltag in einem Parlament mit 20% Rechtsextremen daher kommt etwas illustriert, was im 14. Todesjahr von Hans-Joachim Sbrzesny und im 22. Jahr des Gedenkens an Alberto Adriano nicht nur unglaublich bitter ist, sondern auch unglaublich wütend macht“, so die Landespolitikerin nicht ohne emotionale Regung in der Stimme.

Es sei ein Unding, dass Staat und Gesellschaft, Politik und Behörden, Polizei und Justiz Betroffene rechter Gewalt noch immer nicht genügend schütze: „Wenn Tillschneider sagt, er kenne Sozialdarwinismus nicht, ist das natürlich Unsinn. Er bestreitet ihn als Problem.“ Hans Joachim Sbrzesny wäre nämlich einer der über 500 Menschen, die seit 1989 Opfer tödlicher sozialdarwinistischer Gewalt wurden: „Er war eine jener Personen, von denen heute zugleich zu oft und zu wenig als „Fall“ gesprochen wird.“


Henriette Quade spricht die Gedenkworte für Hans-Joachim Sbrzesny

Die Polizei, so Henriette Quade später, konnte eigentlich an der rechtsextremen Motivation der Täter keinen Zweifel haben: „Sie waren beide mehrfach einschlägig vorbestraft, sie waren beide in Dessau bekannt, sie waren beide am selben Tag bereits mehrfach alkoholisiert und aggressiv in Dessau in Kontakt mit der Polizei. Sie nahmen an NPD-Veranstaltungen teil und hatten Hakenkreuze und Nazibands auf den Handys.“ Sie kritisiert die allseits bekannte Tatsache, dass diese rechtsextreme Motivation in der Urteilsbegründung des Landgerichts Dessau in der Hauptverhandlung gegen die Täter keine Rolle spielte, obwohl selbst die Staatsanwaltschaft im damaligen Prozess immer wieder darauf hinwies. Mit der Folge, dass der Mord bis heute nicht in die offizielle Statistik rechtsextremer Morde eingeflossen ist: „Hans-Joachim Sbrzesny gilt den Einlassungen und Einstufungen von Justiz- und Innenministerium folgend als Zufallsopfer Betrunkener mit schlechter Laune.“

Sowohl die ganz augenscheinlich dokumentierte Sicht der Täter, er sei als vermeintlich Obdachloser weniger Mensch, hätte weniger Rechte und damit auch kein Recht auf Leben, als auch die Ignoranz von Justiz, Politik und breite Öffentlichkeit dieser Überzeugungen als tatleitend anzuerkennen, zeige was Sozialdarwinismus eigentlich ist und wie er funktioniert: „Beides lässt mich traurig, bitter und wütend zurück.“

Zum Schluss spannt die LINKE-Politikerin einen Bogen zwischen dem Opfer auf der Dessauer Parkbank und jenen in Merseburg zu DDR-Zeiten: “Hans-Joachim Sbrzesny hat auch heute, im Jahr 2022 ebenso wenig einen offiziellen Gedenkort wie Raúl Garcia Paret und Delfin Guerra, die 1979 in Merseburg von einem rassistischen Mob in den Tod gejagt wurden.“
Es gibt also noch viel zu tun.

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Hier können Sie eine Broschüre zu Alberto Adriano einsehen (download hier...)
Hier können Sie eine Broschüre zu Hans-Joachim Sbrzesny einsehen (download hier...)

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